Samstag, 29. Mai 2010

28.05.2010 - Tag 36
Gamburg - Edelfingen
8,5 h - 34 km

Die Berge haben ihren Schrecken verloren. Ich erinnere mich noch gut an eine Art von bangem Höhenlinienzählen auf der Wanderkarte am Morgen, "damals" in der Rhön... Inzwischen habe ich endlich wieder meinen Takt gefunden, mit dem die Höhenmeter nicht mehr so schlimm sind.

Ich preise die Schöpfer des Panoramawegs Taubertal, sie haben Großes geleistet. Wo man auch hinschaut, erschlägt einen die Aussicht. Am Hang entlang, oben auf dem Kamm. Trotzdem ist es ein stiller Weg, manchmal durch hüfthohes Gras, dann wieder über asphaltierte Feldwege. Schon seit Tagen bin ich fasziniert von den Farbspielen der Raps- und Getreidefelder zwischen gelb und grün, und heute drischt mir Mutter Natur gleich hinter dem Apfelberg ein sich durch die schnell ziehenden Wolken sekündlich änderndes Farbpuzzle ins Gesicht.

Tauberbischofsheim drängt sich als lauter Industrieklotz ins Panorama. Auf dem Hang über der Stadt treffe ich einen alten Mann, der mit einem Rasenmäher und einer Streuobstwiese kämpft. Er erzählt, daß sie vor vielen Jahren diese Wiese gekauft haben, weil ihre Kinder die gekauften Äpfel nicht vertragen haben. Inzwischen sind Sohn und Tochter erwachsen und wohnen in Ingolstadt und Mainz, aber die Arbeit muß ja gemacht werden. Also kämpft sich der Mann dreimal im Jahr durch das hohe Gras am Berg. Für Äpfel, die er nicht mehr braucht.

Im Ort staune ich wieder über die Waschbetonhäßlichkeit westdeutsche Städte. Zunächst durchquere ich erstmal ein riesiges Industriegebiet, das scheinbar für Quadratkilometer nur aus der Firma VS Möbel (nie gehört...) besteht. Vor den Werkstoren Herden von weißen VW Passats, alle mit dem klugen Kennzeichen TBB-VS... Irgendwo hört Selbstverständnis auf und irgendwo fängt Ödnis an. Im anschließenden Wohngebiet, vor diesem unglaublichen "Steingarten", muß ich an die Zeilen von Rainald Grebe denken:

"Wuppertal sieht aus wie Wladiwostok 1962,
wenn man immer nur den Osten mästet,
das rächt sich..."

Auf all den Kilometern durch den Osten habe ich nur selten dieses Gefühl des belustigten Ekels verspürt, wenn man schlimme Orte anschauen muß. Vieles ist alt, aber vieles ist liebevoll saniert. Der Westen aber ist an vielen Stellen in der Ästhetik der 60er Jahre stehen geblieben, weil zu keiner Zeit die Notwendigkeit bestand, sich neu zu erfinden. Ähnlich scheint es in den Köpfen zu sein.

Beim Aufstieg aus TBB beginnt es zu Regnen. Ich kämpfe mich durch meinen größten Alptraum: Regen und bergauf bei 20°. Ich verfluche die Erfinder von GoreTex und verbrauche Unmengen von Taschentüchern, um meine Brille einigermaßen durchsichtig zu halten. Wie gut, daß ich irgendwo - irgendwo... - im Rucksack auch Kontaktlinsen mit mir herumtrage. Sobald ich oben bin, hört der Regen auf.

Kurz vor Lauda höre ich bei wunderschönem Sonnenschein den ersten Donner hinter mir. Mein Kopf rattert und mir wird klar, daß ich noch nie ein Gewitter auf freier Wildbahn erlebt habe. Klar, Senke aufsuchen. Nicht in den Wald stellen. Aber will ich wirklich schon wieder mit einem vollkommen durchweichten Rucksack ankommen? Mein Kampfgeist siegt und ich ziehe nach einem Blick auf die Karte das Tempo an. Der Himmel macht es mir nicht leicht, ich muß ständig zum fotografieren stehen bleiben. Mehr grün und gelb, in dramatischen Kombinationen.

Eigentlich will ich hier gar nicht lang, aber mein Bauchgefühl sagt mir ganz deutlich, daß ich diese Wolkenbank, die da auf mich zukommt, nicht einfach ignorieren sollte. Im Grunde geht es mir darum, daß ich nicht schon wieder wie komplett getunkt dastehen will -- wie muttihaft. Ich wische den Stolz und all die - huh! - Outdoorkompetenz beiseite und mache mich schnellstens auf den Weg ins Tal. Vielleicht schaffe ich es rechtzeitig bis in den Ort, da wird es doch wohl ein Bushäuschen oder irgendwas geben. Kurz vor dem Ortsschild kommen mir einige Radfahrer entgegen, die quietschvergnügt in Richtung Gewitter fahren  und sich auch nicht entblöden, mir noch flotte Sprüche wegen meines "schweren Gepäcks" rüberzurufen. Kurz nach dem Ortsschild kommen die ersten Tropfen.



Der nächste Blick zurück sieht schon richtig ernst aus. Ich stehe an der ersten Kreuzung im Wohngebiet und will schon weiter bergab in die Dorfmitte eilen, als ich den überdachten Eingang des leerstehenden kath. Pfarrheims erspähe (siehe oben links im Bild). Ich teile mir die zwei Quadratmeter mit einer Ameisenstraße und komme mir erstmal ziemlich doof vor, wie ich mich hier vor ein paar Tropfen verkrieche.

Fünf Minuten später geht die Welt unter. Ganze Badewannen werden ausgekippt, der Blitz schlägt hörbar irgendwo im Dorf ein, Hagel fällt vom Himmel. Ich stehe feixend im Schutz des Betons, während die Radfahrer von eben den Berg hinuntergesaust kommen, unter einem viel zu kleinen Vordach Schutz suchen und dann verzweifelt weitersuchen. Der Bauer mit Traktor und Anhänger voll Brennholz gibt Vollgas, um in die Scheune zu kommen. Vati fährt den Mercedes in die Garage. Innerhalb von zwei Minuten ist die Straße ein Fluß, das Wasser fließt nicht in die Gullis, sondern in einer schwungvollen Welle darüber hinweg - wie im Wildwasser. Ich spüre, wie die Gewitterfront das Dort und mich überrollt und staune und staune...

Das Gewitter geht schneller, als es gekommen ist. Der Regen läßt nach und die Sicht klart wieder auf, man kann die Walze jetzt weiter unten im Tal grollen sehen. Die Sonne kommt sofort wieder raus, ich laufe durch den dampfenden Ort. In allen Ecken liegen Häufchen aus Hagelkörnern. Wie Schnee, den der Frühling vergessen hat. Oben auf dem Berg sind die Getreidefelder frisch gewaschen und gekämmt. Eine gute halbe Stunde später ist schon wieder ziviles Wetter, noch eine halbe Stunde später wird es ein warmer Frühsommerabend.

Die letzten Kilometer zum Hotel wieder auf einem Radweg durchs Taubertal. Ich mache Druck und will endlich ankommen. Der Laden hat sich natürlich wieder am anderen Ende des Dorfes versteckt... Davor zwei Busladungen mit Rentnern und ein voller Parkplatz. Als ich mit dem Fahrstuhl hoch in mein Zimmer fahre, erschrecke ich über das Bild des abgekämpften Typen im Spiegel. Gott sei Dank muß ich mich nicht ständig sehen und riechen.

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