Reifenstein - Heyerode
7 h - 30 km
Der Tag beginnt schlimm. Draußen regnet es sich gerade richtig ein, während ich das enttäuschende Frühstücksbuffet besichtige. Das Hotelrestaurant in Grün-Türkis sieht am Morgen noch schlimmer aus: Mir sind gestern abend die violetten Vorhänge dazu nicht aufgefallen...
Beim Aufbruch regnet es immer noch, es wird die nächsten Stunden dabei bleiben. Ich verkrieche mich unter Regenjacke und iPod, beides wird mich bis zur Ankunft in Heyerode begleiten. Meine Motivation ist am Boden, an so einem Samstag sehne ich mich nach einem Zuhause. Wo man wegen des Regens im Bett liegenbleibt, wo man am Nachmittag vor dem Fernseher verschimmelt, wo man aus dem Fenster schaut und sich vergewissert, daß das Auto ordnungsgemäß geparkt ist. Statt dessen drückt mir der Wind von hinten rechts den Regen auf den Arsch und auf die Laune. Der Regen der letzten Nächte hat die Wege durchweicht, ich eiere ständig auf zentimeterdicken Schlammpolstern unter meinen Stiefeln durch den Wald.
Der Tag zieht an mir vorbei, es ist mir ganz recht so. Die Musik aus dem iPod packt meinen Kopf in Watte und ich schwebe durch die Landschaft. Der Regen hört nicht auf, in meinem Körper steckt nicht mehr das kleinste Fünkchen Lust auf Unterwegssein. Ja, schöne Landschaft, ja, schöner Weg auf dem Mühlhäuser Landgraben, ja, fast den ganzen Tag nur im Wald und nicht durch Dörfer, ja, Buchenwälder, ja, ja, ja. Aber das ändert alles nichts daran, daß ich jetzt gerne irgendwo ankommen und bleiben würde.
Hinter Eigenrieden bekomme ich einen Schlag ins Gesicht: Der Rennsteig. Rennstieg. Wie auch immer. Das kommt davon, wenn man sich Wanderkarten kauft, sich eine ungefähre Route überlegt, aber nicht vorher zuhause genau die Karten anschaut. Dann könnte man solche gefährlichen Bereich meiden... Und schon bin ich mitten im Touristenmagnet Hainich. Am Startpunkt des Rennsteigs. Ich sehe vor meinem geistigen Auge schon alte Männer in roten Wandersocken. Die Sägemehlmarkierungen der Massenwanderungen des Deutschen Wanderverbands. Brrrr. Ich möchte nicht wissen, was hier an einem sonnigen Sommerwochenende los ist.
In Heyerode fotografiere ich brav das Grenzhaus am Ortsausgang. Irgendwo hab ich das schonmal gesehen. So schön die Landschaft den ganzen Tag über gewesen sein mag, dieser Ort ist es nicht. Heyerode läßt sich, wie viele andere Orte, die ich bisher in Thüringen gesehen habe, gehen. Großangelegte Infotafeln am Ortsrand lotsen den Wanderer vom Rennsteig in den Ort hinunter. Und im Ort erwartet ihn: tja...
Zwei Eiscafés soll es geben. Und eine Pizzeria. Voller Glücksgefühle durchkämme ich den Ort. Die Aussicht auf ein Tourende-Eis! Und seit Tagen wäre ich bereit, für eine Pizza kleine süße Kätzchen zu töten. Nummer 1: dicht. Gleichzeitig auch die Pizzeria. Sehr dicht. Also doch erstmal ins Hotel.
Mein Hotel will eigentlich gar kein Hotel sein. Ich hätte gestern, als ich hier angerufen habe, schon mißtrauisch werden sollen. Offensichtlich mußten sich die diversen Menschen, durch die ich mich am anderen Ende der Leitung hangelte, erstmal selbst sortieren, bis sie meinen einfachen Wunsch nach einem Zimmer zusagen konnten. Heute erinnert sich niemand daran, keiner weiß was. Panik steigt in mir auf. Irgendwer fragt den Chef, der erinnert sich, allerdings hat anscheinend keiner das Einzelzimmer vorbereitet. Ich trinke ein schnelles Belohnungsspezi, bis sich alle Beteiligten sortiert haben. Dann beginnt das absurde Ballett. Ich folge der Bedienung, die mich einen dunklen Gang nach hinten schickt. "Irgendwo da rechts muß der Chef sein..." Der geht wieder mit mir nach vorne, nachdem ich ihm ein paar Minuten zugesehen habe, wie er an einem Fernseher herumgebastelt. Vorne drückt er mir einen Zimmerschlüssel in die Hand. Ich frage nach Abendessen -- offensichtlich gibts irgendeine Familienfeier hier heute abend -- und er lehnt ab. "Wir haben keine Küche." Fassungslos sehe ich ihn an. "Naja, wir haben eine Küche, aber nicht hier." Ah ja. Nach einiger Diskussion erklärt er sich bereit, mir eine Schlachteplatte zusammen zu stellen. Leider nur kalt. Ich lehne ab. Der Chef geht ab. Die Bedienung tritt auf. "Wissen Sie, wo Ihr Zimmer ist?" Ich weiß es natürlich noch nicht, vermute es aber irgendwo hinten im dunklen Gang. Sie entblödet sich nicht, mir zu gestehen, daß sie es auch nicht wisse, also mache ich mich endgültig entnervt alleine auf die Suche. Zimmer 5 gefunden, Dusche aufgedreht, Ruhe fürs Erste.
Um 19:00 Uhr meldet sich der Magen. Hunger. Auf dem Weg nach draußen will ich vorne das Spezi bezahlen und werde ignoriert. Der Chef und die Bedienung sind noch genauso chaotisch wie vorhin und haben unglaublich viel Wichtiges zu tun. Meine Frage nach Frühstück bleibt vom Chef unbeantwortet. Ich schalte auf stur, bleibe in der Einflugschneise des Tresens stehen und blockiere den Ausgang. Irgendwann will die Bedienung raus und ihr fällt auf, daß ich da immer noch stehe. Ich frage nach Frühstück. Sie fragt ihren Chef.
Ich verlasse den Laden vollkommen entnervt, vorbei an den aufgebauten Buffets für die Veranstaltung im Saal. Hier gibt es nix zu Essen, ich muß mir also was suchen. Speisegaststätte Weißes Roß: seit Jahren dicht. Speisegaststätte Zum Grünen Rasen: Heute dicht. Morgen um 10:00 Uhr Frühschoppen, ab 13:00 Uhr Geschlossene Gesellschaft. Gaststätte Alter Bahnhof: Dicht. Letzte Hoffnung: Eiscafe/Restaurant Hohlbein. Sieht dicht aus, Tür ist aber offen. Im Windfang höre ich schon Stimmen aus dem Gastraum und atme auf. Hinter der Tür: Die nächste Familienfeier mit Buffet, ich stehe im Saal wie das letzte Alien. Auch diese Bedienung mag keine Fragen beantworten und verweist an ihren Chef. Auch dieser verweigert ein Abendessen gegen gutes Geld für einen einzelnen Gast. Wieder raus auf die Straße, vorbei am vollen Buffet. Es ist absurd! Ich überlege kurz, bei Edeka ein Fenster einzudrücken, kaufe mir dann aber statt dessen todesmutig einen Döner beim Dönermann. Daß es hier einen Dönermann gibt, finde ich bedenklich. Daß er das Schild "Neueröffnung" im Schaufenster hat, ist auch nicht viel beruhigender. Egal. Ich setze mich auf eine Mauer und kaue die zähe Schuhsohle mit Hornhautraspeln. So sieht er aus, so schmeckt er auch. Mit einer Dose Cola spüle ich das Elend runter und hoffe, daß alles drin bleibt.
Junge Menschen in ihren Autos fahren verzweifelt im Kreis in diesem Ort. Ich bin der einzige Fußgänger an diesem Abend, und ob die Häuser wirklich bewohnt sind, bleibt im Trüben.
Ich stelle fest, daß Thüringen bisher landschaftlich am meisten zu bieten hat, dafür die Zivilisation hier nur eingeschränkt genießbar ist.