Samstag, 15. Mai 2010

Thüringen: Landschaft hui, Orte pfui...

15.05.2010 - Tag 23
Reifenstein - Heyerode
7 h - 30 km

Der Tag beginnt schlimm. Draußen regnet es sich gerade richtig ein, während ich das enttäuschende Frühstücksbuffet besichtige. Das Hotelrestaurant in Grün-Türkis sieht am Morgen noch schlimmer aus: Mir sind gestern abend die violetten Vorhänge dazu nicht aufgefallen...

Beim Aufbruch regnet es immer noch, es wird die nächsten Stunden dabei bleiben. Ich verkrieche mich unter Regenjacke und iPod, beides wird mich bis zur Ankunft in Heyerode begleiten. Meine Motivation ist am Boden, an so einem Samstag sehne ich mich nach einem Zuhause. Wo man wegen des Regens im Bett liegenbleibt, wo man am Nachmittag vor dem Fernseher verschimmelt, wo man aus dem Fenster schaut und sich vergewissert, daß das Auto ordnungsgemäß geparkt ist. Statt dessen drückt mir der Wind von hinten rechts den Regen auf den Arsch und auf die Laune. Der Regen der letzten Nächte hat die Wege durchweicht, ich eiere ständig auf zentimeterdicken Schlammpolstern unter meinen Stiefeln durch den Wald.

Der Tag zieht an mir vorbei, es ist mir ganz recht so. Die Musik aus dem iPod packt meinen Kopf in Watte und ich schwebe durch die Landschaft. Der Regen hört nicht auf, in meinem Körper steckt nicht mehr das kleinste Fünkchen Lust auf Unterwegssein. Ja, schöne Landschaft, ja, schöner Weg auf dem Mühlhäuser Landgraben, ja, fast den ganzen Tag nur im Wald und nicht durch Dörfer, ja, Buchenwälder, ja, ja, ja. Aber das ändert alles nichts daran, daß ich jetzt gerne irgendwo ankommen und bleiben würde.

Hinter Eigenrieden bekomme ich einen Schlag ins Gesicht: Der Rennsteig. Rennstieg. Wie auch immer. Das kommt davon, wenn man sich Wanderkarten kauft, sich eine ungefähre Route überlegt, aber nicht vorher zuhause genau die Karten anschaut. Dann könnte man solche gefährlichen Bereich meiden... Und schon bin ich mitten im Touristenmagnet Hainich. Am Startpunkt des Rennsteigs. Ich sehe vor meinem geistigen Auge schon alte Männer in roten Wandersocken. Die Sägemehlmarkierungen der Massenwanderungen des Deutschen Wanderverbands. Brrrr. Ich möchte nicht wissen, was hier an einem sonnigen Sommerwochenende los ist.

In Heyerode fotografiere ich brav das Grenzhaus am Ortsausgang. Irgendwo hab ich das schonmal gesehen. So schön die Landschaft den ganzen Tag über gewesen sein mag, dieser Ort ist es nicht. Heyerode läßt sich, wie viele andere Orte, die ich bisher in Thüringen gesehen habe, gehen. Großangelegte Infotafeln am Ortsrand lotsen den Wanderer vom Rennsteig in den Ort hinunter. Und im Ort erwartet ihn: tja...

Zwei Eiscafés soll es geben. Und eine Pizzeria. Voller Glücksgefühle durchkämme ich den Ort. Die Aussicht auf ein Tourende-Eis! Und seit Tagen wäre ich bereit, für eine Pizza kleine süße Kätzchen zu töten. Nummer 1: dicht. Gleichzeitig auch die Pizzeria. Sehr dicht. Also doch erstmal ins Hotel.

Mein Hotel will eigentlich gar kein Hotel sein. Ich hätte gestern, als ich hier angerufen habe, schon mißtrauisch werden sollen. Offensichtlich mußten sich die diversen Menschen, durch die ich mich am anderen Ende der Leitung hangelte, erstmal selbst sortieren, bis sie meinen einfachen Wunsch nach einem Zimmer zusagen konnten. Heute erinnert sich niemand daran, keiner weiß was. Panik steigt in mir auf. Irgendwer fragt den Chef, der erinnert sich, allerdings hat anscheinend keiner das Einzelzimmer vorbereitet. Ich trinke ein schnelles Belohnungsspezi, bis sich alle Beteiligten sortiert haben. Dann beginnt das absurde Ballett. Ich folge der Bedienung, die mich einen dunklen Gang nach hinten schickt. "Irgendwo da rechts muß der Chef sein..." Der geht wieder mit mir nach vorne, nachdem ich ihm ein paar Minuten zugesehen habe, wie er an einem Fernseher herumgebastelt. Vorne drückt er mir einen Zimmerschlüssel in die Hand. Ich frage nach Abendessen -- offensichtlich gibts irgendeine Familienfeier hier heute abend -- und er lehnt ab. "Wir haben keine Küche." Fassungslos sehe ich ihn an. "Naja, wir haben eine Küche, aber nicht hier." Ah ja. Nach einiger Diskussion erklärt er sich bereit, mir eine Schlachteplatte zusammen zu stellen. Leider nur kalt. Ich lehne ab. Der Chef geht ab. Die Bedienung tritt auf. "Wissen Sie, wo Ihr Zimmer ist?" Ich weiß es natürlich noch nicht, vermute es aber irgendwo hinten im dunklen Gang. Sie entblödet sich nicht, mir zu gestehen, daß sie es auch nicht wisse, also mache ich mich endgültig entnervt alleine auf die Suche. Zimmer 5 gefunden, Dusche aufgedreht, Ruhe fürs Erste.

Um 19:00 Uhr meldet sich der Magen. Hunger. Auf dem Weg nach draußen will ich vorne das Spezi bezahlen und werde ignoriert. Der Chef und die Bedienung sind noch genauso chaotisch wie vorhin und haben unglaublich viel Wichtiges zu tun. Meine Frage nach Frühstück bleibt vom Chef unbeantwortet. Ich schalte auf stur, bleibe in der Einflugschneise des Tresens stehen und blockiere den Ausgang. Irgendwann will die Bedienung raus und ihr fällt auf, daß ich da immer noch stehe. Ich frage nach Frühstück. Sie fragt ihren Chef.

Ich verlasse den Laden vollkommen entnervt, vorbei an den aufgebauten Buffets für die Veranstaltung im Saal. Hier gibt es nix zu Essen, ich muß mir also was suchen. Speisegaststätte Weißes Roß: seit Jahren dicht. Speisegaststätte Zum Grünen Rasen: Heute dicht. Morgen um 10:00 Uhr Frühschoppen, ab 13:00 Uhr Geschlossene Gesellschaft. Gaststätte Alter Bahnhof: Dicht. Letzte Hoffnung: Eiscafe/Restaurant Hohlbein. Sieht dicht aus, Tür ist aber offen. Im Windfang höre ich schon Stimmen aus dem Gastraum und atme auf. Hinter der Tür: Die nächste Familienfeier mit Buffet, ich stehe im Saal wie das letzte Alien. Auch diese Bedienung mag keine Fragen beantworten und verweist an ihren Chef. Auch dieser verweigert ein Abendessen gegen gutes Geld für einen einzelnen Gast. Wieder raus auf die Straße, vorbei am vollen Buffet. Es ist absurd! Ich überlege kurz, bei Edeka ein Fenster einzudrücken, kaufe mir dann aber statt dessen todesmutig einen Döner beim Dönermann. Daß es hier einen Dönermann gibt, finde ich bedenklich. Daß er das Schild "Neueröffnung" im Schaufenster hat, ist auch nicht viel beruhigender. Egal. Ich setze mich auf eine Mauer und kaue die zähe Schuhsohle mit Hornhautraspeln. So sieht er aus, so schmeckt er auch. Mit einer Dose Cola spüle ich das Elend runter und hoffe, daß alles drin bleibt.

Junge Menschen in ihren Autos fahren verzweifelt im Kreis in diesem Ort. Ich bin der einzige Fußgänger an diesem Abend, und ob die Häuser wirklich bewohnt sind, bleibt im Trüben.

Ich stelle fest, daß Thüringen bisher landschaftlich am meisten zu bieten hat, dafür die Zivilisation hier nur eingeschränkt genießbar ist.


Hausnummernbingo: mager...


#14a: Silberstein

Freitag, 14. Mai 2010

Tour de Bärlauch...

14.05.2010 - Tag 22
Bleicherode - Reifenstein
7,5 h - 30 km

Bleicherode ist immer noch sauer auf mich. Beim Frühstück muß ich meine Tischnachbarin auffordern, sich die Frühstückszigarette bitte draußen anzuzünden. Immer noch kein Handyempfang. In den Apotheken gibts keine guten Blasenpflaster. Die Wege aus dem Ort raus sind so seltsam markiert, daß ich mich sofort während der ersten halben Stunde der Tour verlaufe und querfeldein den Hang hochhechele, um dieses furchtbare Kaff endlich hinter mich zu kriegen.

Hinter Sollstedt der nächste keuchende Anstieg, der mich noch mehr als der vorige belohnt. Ich stehe an der Steilhangkante des Dün, ein sichelförmiger Höhenzug ohne Straßen und Dörfer, der sich von in Richtung Südwest erstreckt. Überall Buchen, Buchen, Buchen. Stundenlang führt mich ein schmaler Pfad hart an der Abbruchkante entlang, links von mir nur Wald, rechts der Abgrund. Ein Traum in Grün. Ab und zu lichtet sich der Wald rechts und man sieht weit nach Norden, bis hin zum Harz. Es ist einer der landschaftlich schönsten Wege, die ich in meinem Leben bisher gelaufen bin. Irgendwann lasse ich auch das Dröhnen der Autobahn hinter mir und glühe vor Glück. Keine Schmerzen in den Füßen, leichtes Gehen, keine Blasen. Kühles, trockenes Wetter. Nasser Waldboden.

Bald stolpere ich über das erste Bärlauffeld und stehe wie ein Städter davor: Isses nun Bärlauch oder täusche ich mich? Ich pflücke ein Blatt und reiße es in der Mitte durch - sofort habe ich den würzigen Duft in der Nase. Begeistert fotografiere ich diese erste Bärlauchwiese ausgiebíg (zuhause in Bayern findet man den ab und zu mal im Wald, aber nicht in der Menge). Während ich weitergehe, wird es immer mehr, der ganze Waldboden ist voll mit Bärlauch, soweit das Auge reicht. Die erste Wiese war kläglich gegen diese sich buchstäblich über Kilometer ausdehnenden Bärlauchwiesen. Der komplette Boden ist voll davon, nur ein schmaler Pfad ist ausgetreten.

Nach knapp vier Stunden stehe ich plötzlich auf einer Baustelle. Thüringen ist ungnädig und hat mitten in das herrliche Panorama ein riesiges Zementwerk-UFO landen lassen. Es streckt wie eine Krake seine Finger in verschiedene Richtungen: Gleisanlagen, Zufahrtsstraßen, Türme. Ein Förderbandsystem reicht herauf bis zur Kante des Dün, dahinter ein riesiges Loch mit ausgeweideter Erde. Alles leer, einen knappen Kilometer weiter schüttet ein einsamer Radlader unter Getöse Steine auf das Förderband. Ich brauche einige Kilometer, um die Nachwirkungen dieser Mondlandschaft hinter mir zu lassen.

Der Höhenweg endet auf einem Bergsporn, vor vielen Jahrhunderten stand hier mal eine Burg, übrig sind nur noch die Reste der Wallanlagen. Von hier aus führt ein sehr steiler Weg direkt den Hang hinab nach Reifenstein, er ist wunderbar markiert -- allerdings frage ich mich, wie man hier ernsthaft runterkommen soll. Nach ein paar Schritten Abstieg kapituliere ich und krabbele auf allen Vieren wieder zum nächsten sicheren Stand hoch. Hier komme ich nie runterm, zumindest nicht im Ganzen. Aber - gemein! - das Ziel liegt so wunderbar ausgebreitet nur einen Steinwurf entfernt zu meinen Füßen. Ich breche mir einen dicken Wanderstock aus dem Geäst und traue mich schrittweise abwärts. Sehr sportliche Wegmarkierung...


In Reifenstein schmunzele ich schon von Weitem über das Hotel, das mich heute Abend erwartet. Über die  verzweifelte Ernsthaftigkeit eines Hotels, das am Ende der Welt liegt und genau weiß, daß es nur eine Chance zum Überleben hat, wenn es sich auf die Hinterbeine stellt. Im See im Park (sprich: Teich mit Wiese außenrum) tost eine 8m hohe Wasserfontäne (außer Betrieb), die genau den Mittelpunkt Deutschlands markiert. Klar... Das Hotel ist eine Terrorsymphonie in Gold/Marmor (Eingangshalle), Grün/Türkis (Restaurant) und imitiertem Holzimitat (Zimmer). Voller Mitleid bemerke ich, daß das es vergebens versucht, seinen Ursprung in DDR-Architektur und -Ausstattung zu kaschieren.

Zum Abendessen wieder Soljanka, schließlich verlasse ich das Soljanka-Land. Wieder gibt es süße statt saurer Sahne obendrauf. Wenigstens mit Zitrone, wenigstens keine Sprühsahne (wie leider so oft). Ich kann nicht schon wieder Schnitzel essen und durchsuche die Karte nach Alternativen. Verwegen unterstelle ich, daß der beim Salatteller "Griechischer Art" angepriesene Schafskäse (den ich nicht mag, weil zu würzig) in Wirklichkeit gar kein Schafskäse sein wird, sondern billiger (aber wunderbar leckerer, weíl milder) Kuh-Feta. Ich behalte Recht und mampfe glücklich Zwiebeln, Oliven, Feta und Salz.

Hausnummernbingo: Trotz viel Wald eine gute Ausbeute...

#5: Bleicherode

#3: Sollstedt

#13: Reifenstein

#15: Reifenstein (vom direkten Nachbarn #13 inspiriert...)

Danke, Vatertagsgesellen...

Darf ich vorstellen: Links, der Mülleimer. Halbleer und in diesem Falle ungenutzt. Mitte und rechts, die Überreste des gestrigen Herrentags-Volks-Almauftriebs. Ich könnte AUSFLIPPEN bei sowas...

Blühende --- ok, verkneifs dir...



Das gelbe Meer...

13.05.2010 - Tag 21
Walkenried – Bleicherode
6 h - 25 km


Der Tag beginnt wie eine perfekte Choreographie: Ich verlasse die Pension, von dort sind es nur 50m bis zum Waldrand. Ich finde einen Trampelpfad, der steil genau den kleinen Höhenzug erklimmt, den ich überqueren will. Eine kleine Querfeldeinetappe, aber genau so, wie ich sie mir wünsche.

Auf der anderen Seite am Waldrand, auf der alten Zonengrenze zwischen Niedersachsen und Thüringen, haut es mich um: Ich sehe mein Tagesziel am Horizont! Die Bleicheröder Berge rechts und die Hainleite weiter links sind deutlich zu erkennen. Dazwischen welliges Hügelland. Alles sieht zum Greifen nahe aus, aber der Blick auf die Karte versichert mir, daß es gut 15 km Luftlinie sind. Besser kann ein Tag nicht beginnen. Und es sollte auch einer der schöneren Wandertage werden.

Hinter Branderode sehe ich eine Gruppe Wanderer auf einen grasbewachsenen Berg ziehen und ahne, daß das nur die Vorhut der Vatertagstouristen ist. Dieses Foto schieße ich noch mit viel Sicherheitsabstand und Super-Zoom. Später kommen sie mir in Scharen entgegen, mit Bollerwagen, auch Rollstühlen, ganze Familien. Zu zweit, zu fünft, zu zwanzigst. Ich setze tapfer meine Gute-Laune-Miene auf, grüße jovial und mache Tempo. Schnell vorbei, bevor ich in ein Gespräch verwickelt werde. Ich vermeide geistesgegenwärtig den eigentlich geplanten Weg über das Naturdenkmal „Schnapseiche“, es braucht nicht viel Phantasie, um sich die Schnapsleichen unter der Schnapseiche vorzustellen.
Mittagspause im Wald, auf dicken gefällten Buchenstämmen, die die Forstarbeiter dankenswerterweise so gestapelt haben, daß ich wie in einem Liegestuhl fläzen kann. Ich lasse mehrere Gruppen Vatertagstouristen an mir vorbeideflieren und belausche sie kräftig. Die alten Herren unterhalten sich in kurzen Grunzlauten darüber, wer das Grundstück gekauft hat. Die Jungs thematisieren Panzer, Kreiselkompässe und andere technische Entwicklungen.

In den vergangenen Wochen habe ich genau einen anderen Wanderer getroffen – den wunderlichen alten Mann im Harz. Dank Vatertag sollen es heute am Ende 64 werden. Die zählen aber ALLE nicht! Ganz Thüringen scheint auf den Beinen und in Wald und Flur zu sein. Selbst die Bleicheröder Jugend hat sich 500m aus dem Ort hinausgequält und hat sich mit Einweggrill und Wodka direkt auf den Feldweg gesetzt. Und scheitert daran, den Einweggrill in Gang zu bekommen.
Ein ähnlich jämmerliches Bild gibt mein heutiges Ziel Bleicherode ab. Es nennt sich "Stadt". Aus der Ferne ein stattlicher Ort, aus der Nähe ein dahinsiechendes Wrack. Die Straßen sind noch leerer als sonst, auch die Häuser wirken verlassen. Ich bin ratlos. Es wirkt, als wäre die Stadt fluchtartig verlassen worden. Bei der Suche nach meinem Hotel zähle ich vier Spielhallen, ein schlechtes Zeichen. Bleicherode stirbt, ich zähle fast soviele leer stehende Wohnungen, Häuser und Läden wie Einwohner. Manchen Läden sieht man an, daß sie seit 20 Jahren auf neue Mieter warten. Die Hauptstraße mit ihren nett gepflasterten Gehwegen und teilweise schön sanierten Fachwerkhäusern macht im ersten Moment wieder etwas Hoffnung, aber ein zweiter Blick ist noch deprimierender. Alles Versicherungsbüros, sieben Stück auf einer Strecke von 100 Metern. Fünf Asia-Shops. Und Leerstand. Ich laufe deprimiert erstmal an meinem Hotel vorbei und besichtige den Rest der Ortes: Die 50er-Jahre-Plattenbausiedlung „Glück auf“, neben der ein gleichnamiges Seniorenzentrum entsteht. Die grüne Wiese, auf deren Bauschild die Gemeinde Bleicherode den Baubeginn für ihr neues Verwaltungsgebäude ankündigt: 2009. Die frühere Einkaufsstraße, die zum Berg hin immer noch mehr ausdünnt und am Ende wie dreifach verdünnter Apfelsaft schal versickert. Ich kreuze zwei leider sehr fette Frauen mit Eis in der Hand und fahre sofort die Antennen aus. Um die Ecke das Eiscafe, ein schöner Laden. Und rammelvoll. So gut das Eis ist, so tröstend diese lebendige Oase in diesem ansonsten jämmerlichen Ort ist: Es ist der einzige Platz in Bleicherode, an dem ich heute mehr als drei Menschen auf einmal sehe. Sie klammern sich daran, was anderes hat nicht offen. Selbst die drei Katzen, die fasziniert vor der Freiluft-Voliere mit den Vögeln sitzen, die sich irgendein Freak in den Garten gestellt hat, wirken traurig.
Bleicherode ist beleidigt von meinen überzogenen Forderungen und bombardiert mich mit weiteren Enttäuschungen: Ein schlimmes Zimmer in einem schlimmen Hotel. Das schon vor Jahren geschlossene italienische Restaurant. Die Verzweiflung, als ich den Ort zum zweiten Mal nach einer Essensalternative zum Hotel durchsuche. Das ungläubige Staunen, als ich mich am Ende doch ins Hotelrestaurant quäle und nicht glauben kann, wie leer und häßlich es dort ist. Das Stöhnen am nächsten Morgen, als ich feststelle, daß die Müllabfuhr schon um 05:50 Uhr den Müll vor der Haustür einlädt. Und der beständige Regen, der im Morgen auf Bleicherode fällt und damit nur noch mehr dazu beiträgt, daß ich diesem Ort schnell den Rücken kehren und mein Heil im Wald suchen will.

Hausnummernbingo: Wer im Wald geht, sieht keine Hausnummern...

Immerhin:

#16: Branderode

Mittwoch, 12. Mai 2010

Samesame, but different...

12.05.2010 - Tag 20
Sorge - Walkenried
4,5 h - 23 km

Ich lasse es heute mal gaaaanz vorsichtig angehen, nur gute 20 km stehen auf dem Zettel. Das gibt allerdings die Möglichkeit zu einigen netten Wegen, zum gemütlichen Schlendern und zum Schonen der Füße. Und ich mache die Harzdurchquerung in genau 2 Tagesetappen: Blankenburg am nördlichen Harzrand - Sorge mitten im Harz - Walkenried am südlichen Harzrand. Das passt...

Bevor ich aufbreche, feiere ich erst einmal das beste Frühstücksbuffet ab, das ich auf meiner Reise bisher hatte. Alles da, alles im Überfluß, ich beginne mit Zimtmüsli und Joghurt, schlage das Angebot von frischem Spiegel- oder Rührei elegant aus, arbeite mich statt dessen weiter durch diverse Brötchenbeläge wie feine italienische Salami oder Zuckerrübensirup bis hin zur Nachtischkiwi. Zwischendurch gab´s auch noch Gürkchen, selbstgemachte Minibuletten undundund. Herrlich. Ich teile den Frühstücksraum mit drei sehr alten Ehepaaren, denen man anmerkt, daß sie es nicht gewöhnt sind, in Gesellschaft zu frühstücken. Es wird gerülpst, gemosert, rumgemotzt und geschlürft, als sei man zuhause in den eigenen vier Wänden. Alleine mit dem Ehepartner, so wie seit 50 Jahren. Ein liebevolles "Gib mal die Butter her!" oder "Neee, nicht so´n Körnerbrötchen!" oder "Nä, das steht bestimmt schon länger!" leitet die deutlich mithörbare Litanei ein, wie schlecht man doch geschlafen habe und warum. Ich kichere in meine Teetasse, bemitleide das mittlere Ehepaar (dem das Schauspiel teilweise auch ein wenig peinlich ist), und habe meinen Spaß. Und erspare den Mitlesenden den Rest.

Hinter Sorge tauche ich wieder in den nassen Wald und in die tief hängenden Wolken. Ein Mann mit Mofa und Anhänger macht Holz mit der Kettensäge -- ich frage mich allerdings, wie sich der schwer beladene Anhänger auf dem nassen Grasboden jemals auch nur ein Stück fortbewegen soll. Weiter nach Hohegeiß, mit 640m der vorerst höchste Ort meiner Reise. Ab hier: Abwärts. Steile Täler, oben nur Wolken, vorne und hinten nur Nebel. Nach einer guten Stunde öffnet sich das Tal und irgendwann verzieht sich unmerklich auch der Dunst.

In Zorge stelle ich fest, daß ich offensichtlich wieder im Westen bin -- die schlimmen Mietskasernen am Straßenrand sind eindeutig nicht Ost-Plattenbau, sondern West-60er-Jahre. Beides sieht in der Regel ähnlich schlimm aus. Gleichzeitig wird mir wieder bewußt, daß ich heute wieder meinen schlimmsten Fehler begangen habe: Wer schon mit dem Gedanken "Ach, heute nur ne kurze Tour..." losläuft, wird immer damit bestraft, daß er davon ausgeht, daß man sowieso gleich da ist. Und dann zieht sich´s. Und zieht. Und zieht...

Die letzte Stunde quäle ich mich durch einen sehr malerischen Wald mit einem vollkommen aufgeweichten Unterboden, dem die Forstmaschinen den Rest gegeben haben. Bei jedem Schritt sinken die Stiefel tief in den Matsch ein und ich besinne mich zurück auf die alte Vorsicht, die ich mir in norwegischen Sumpfwiesen zugelegt habe: Auch wenn das Stück da vorne fest aussieht, könnte es knöcheltiefer Matsch sein. Manchmal funktioniert diese Gleichung, allzuoft aber auch nicht. Verdreckt komme ich in Walkenried an und säubere mich auf der ersten erreichbaren Rentnerbank. Ich stolpere gegen 14:30 Uhr durch einen ausgestorbenen Ort, hier gibt´s nix und das wenige, das es gibt, hat Mittagspause oder Mittwoch Nachmittag geschlossen. Nachdem meine Unterkunft für heute abend noch nicht besetzt ist, irre ich auf der Suche nach einem Lebensmittelladen durch den Ort, werde nicht fündig und ende im einzigen überhaupt offenen Laden des Ortes: Dem Museumscafé. Immerhin: guter Linseneintopf, lecker Torte als Nachtisch und viel heißen Tee.

Hausnummernbingo: Die ersten Dopplungen...

#14: Hohegeiss (doppelt hält anscheinend besser...)

#2: Zorge

#27a: Zorge

#24:Walkenried (ooooh, doppelt...)

#25: Walkenried (der direkte Nachbar von Haus 24 von eben!)

#2: Walkenried (leider auch doppelt, aber das hält offensichtlich auch in diesem Fall besser)

Dienstag, 11. Mai 2010

Glücklich, wer eine Wandernadel hat...

11.05.2010 - Tag 19
Blankenburg - Sorge
8 h - 30 km

Es fällt mir nicht ganz leicht, als ich am Vormittag das Hotel in Blankenburg verlasse und zur Harzdurchquerung ansetze. Die letzten drei Tage waren wirkliche Entspannung, wie ein Wochenende abgammeln, nur ohne schlechtes Gewissen. Abwechselnd in der Badewanne und im Bett liegen, ausgiebig frühstücken und Zeitung lesen, Mittagsschlaf machen, Nachmittags vielleicht auch nochmal ein Nickerchen, mal ganz frech bis 23:30 Uhr (uiuiui!) fernsehen. Herrlich.

Auf die norwegische Art geht´s durch Blankenburg hoch zum Schloß. Dahinter eröffnet sich ein unüberschaubares Wirrwarr an Wegen, deren Beschilderung mal wieder überhaupt nicht mit der Karte überein stimmen wollen. Ich halte mich wie immer an die vernünftige Mischung aus beidem und schraube mich durch schweren Eichenwald weiter, den Hang entlang, den Harzrand hinauf. Überall tropft es, die Wolken hängen tief, Nebel zieht durch díe Baumkronen. Alles ist gesättigt von Feuchtigkeit. Mit meinem Hemd sieht es nicht viel anders aus... Irgendwann stehe ich oben und bin platt, wieviel Kraft 400 Höhenmeter Aufstieg doch kosten können. Und die Karte verspricht mir schon, daß ich nur 3 km weiter in Neuwerk ca. 150 Höhenmeter absteigen darf, um sie sofort auf der anderen Talseite wieder hochzukeuchen. Aber egal: Es ist herrlich, endlich wieder über Hügel, durch Wälder, durch den Harz zu wandern.

Nach dem Aufstieg nach Neuwerk habe ich es geschafft - es geht relativ eben auf einem Höhenweg parallel zum Stausee. Ich rufe mutig das Hotel für heute Abend an und buche mein Zimmer, auch wenn ich mir nicht völlig sicher bin, ob ich es bis dahín schaffe. Bisher bin ich heute sehr schleppend vorangekommen. Meine Streckenrechnung vom Typ "geradeaus, übers Feld" der letzten Wochen stimmt hier im Harz natürlich nicht mehr. Es geht über Forstwege durch vollen Fichtenwald mit senkrechten, uniformen Bäumen. Auf einem dieser Wege kommt mir ein eigensinniger Wanderer entgegen. In der Stadt wäre er sofort als Penner durchgegangen, ein alter Mann mit Bart, einen Bollerwagen hinter sich herziehend, sein kleiner Hund mal neben ihm, mal im Bollerwagen. Hier im Wald, 6 km vom nächsten Dorf entfernt, ist er ein Wanderer, der eigentlich nicht viel wunderlicher ist als ich. Ich grüße freundlich und fühle mich dem Mann viel verbundener, als es zuhause in Berlin je möglich gewesen wäre.

Ich mache gut Strecke auf diesen Wegen, es bleibt den ganzen Tag kalt und feucht. Als ich nach 6h eine Pause einlege und die Kiesgrube aus meinen Schuhen entleere, befühle ich meine Füße. Die rechte Ferse, heute früh mit einem Blasenpflaster versorgt, muckt überhaupt nicht. Die linke Ferse, vernachlässigt, drückt ganz deutlich. Obwohl ich eine ähnlich saftige Blase wie gestern abend befürchte, verzichte ich darauf, die Füße hier mitten im Wald zu versorgen. Da hält sowieso kein Pflaster...

Auf dem Abstieg nach Tanne treffe ich tatsächlich auf einen Weg, den ich schonmal gegangen bin. Den ganzen Tag habe ich mich gewundert, daß ich - obwohl ich im Harz schon so viele Tage kreuz und quer gewandert bin - nur ein paar Stellen vom Auto aus kannte. Ironischerweise ist díe Stelle am Kapitelberg über Tanne eine Stelle, an der ich mich damals verlaufen hatte... Ich gönne mir nur ganz kurz die Aussicht auf das Bodetal, ich will lieber endlich ankommen. Der Abstieg nach Tanne gibt nochmal richtig Pfeffer in die Knie: Ich bin eindeutig zuviel im Flachland gelaufen in den letzten Wochen. Auf der Zielgerade kurz vor Tanne werde ich für die Mühen des Tages mit einem kitschigen Romantikweg (siehe rechts) belohnt. Zwei Minuten später die Rache des Universums: Ich stolpere mit dem linken Fuß über einen Stein und stoße mir hart die Blasen an der Ferse. Herr Grauel geht zu Boden und bleibt erstmal sitzen. Wir wären nicht im Harz, wenn nicht 100m weiter die nächste Bank stehen würde. Stiefel aus, Socke runter. Luft dranlassen. Interessant, was sich da schon wieder alles gebildet hat. Fuß massieren, um die Laune zu heben. Mit Blasenpflaster dopen. Hilft nur begrenzt, die letzten 2km nach Sorge ziehen sich humpelnd schier ewig in die Länge. Irgendwann wird es besser, allerdings fühlt sich mein Unterschenkel durch die Schonhaltung für den Rest des Weges an wie kurz vor einem Krampf.

Das Hotel habe ich richtig gegriffen, schönes großes Zimmer. Endlich wieder Soljanka und Schnitzel, leider nur mittelprächtig. Aber endlich wieder unterwegs.

Romantischer (weil nebliger) Harz...

 

Hausnummernbingo: Wieder nur 1 Treffer heute...

Ich rechne das dem Harz mal hoch an, daß hier anscheinend andere/bessere/historische/wasweißich Hausnummern verwendet werden. Heute gab´s nur einen Treffer, und der hatte sich auch noch in einem Hauseingang versteckt.

#10a: Hüttenrode

Montag, 10. Mai 2010

Back on track...

10.05.2010 - Tag 18
Schwanebeck - Blankenburg
8h - 31 km

Nach 4 Tagen rumsitzen und gesundwerden halte ich es nicht mehr aus... Es muß weitergehen. Der Husten ist zwar noch nicht weg, aber ich habe schwere Hummeln im Hintern. Morgens besteige ich den Zug nach Halberstadt und zuckele durch das diesige Harzvorland. Die Wolken hängen tief, alles sieht fast skandinavisch naß aus. Vom Bahnhof sind es nur ein paar Schritte bis zur Bundesstraße, zum ersten Mal auf dieser Tour halte ich den Daumen raus (der nächste Bus fährt erst in einer knappen Stunde...) und bin erstaunliche 30min später in Schwanebeck. Offensichtlich haben die Einheimischen ein Herz für die Opfer der ätzenden ÖPNV-Verbindungen.

In Schwanebeck klatsche ich am Bushäuschen ab und mache mich auf den Weg zurück nach Blankenburg. Auf den ewigen Börde-Geraden verfluche ich mich angesichts dieser dämliche Idee, weiß aber im Grunde meines Herzens, daß es richtig ist, diese Etappe noch nachzuholen. Diese ausgelassenen 30km hätten bis zum Ende der Tour an mir genagt. Dann verfluche ich eben die Börde mit ihren ewigen Geraden und den Feldern, die ich nicht mehr sehen kann.

Nach Halberstadt werde ich belohnt. Wald. Berge. Diesige Hügelketten, die sich bis zum Horizont staffeln und immer weiter verschwimmen. Alles sieht anders aus. Endlich! Der Weg säumt sich am Waldrand entlang, es ist nass und kalt, aber ich bin glücklich. Rechts hinten irgendwo dröhnt die B81, auf der ich so oft von Halberstadt nach Blankenburg gefahren bin. Gleich daneben die Bahnstrecke, auf der ich in den letzten Tagen schon x-mal hin- und her-gegondelt bin. Hinter Langenstein gerate ich wieder in den Strudel der Geschichte. Meine Route war vor 70 Jahren die Route von KZ-Häftlingen von ihrem Arbeitsstollen zum Lager. Wieder erwischt mich die Geschichte an einem Ort, an dem ich sie nie vermutet hätte. Der kleine Bergrücken, den ich eigentlich nur schnell überqueren wollte, entpuppt sich schließlich als Gedenkstätte auf dem Gelände des KZ-Außenlagers Langenstein-Zwieberge. Es ist die unheimlichste Gedenkstätte, die ich je besucht habe.

Ich erinnere mich gut an die Exkursionen in der Schule ins KZ Dachau. An meine Besichtigung des KZ Sachsenhausen vor ein paar Jahren. Diese Gedenkstätte ist anders. Still im Wald, verschluckt vom Wald. Kein Mensch hier. Ich stehe auf einer riesigen ungemähten Wiese im Wald, dem ehemaligen Appellplatz. Es läuft mir zum ersten Mal eiskalt den Rücken hinunter - am Ende der Lichtung steht noch eine Baracke, die Fenster blicken hohl herüber. Beim Rundgang über das Gelände versuche ich noch, mich mit dem Gedanken, daß sich Bäume und der Wald das KZ-Areal zurückerobern, zu trösten. Die Bodenplatten der Wirtschaftsgebäude sind von den Wurzeln der umstehenden Bäume aufgeworfen. Bei den Krankenbaracken flieht ein Reh in den Wald. Aber immer länger stehe ich vor den wenigen Tafeln mit Geschichten von Zeitzeugen. Stehe mitten im Wald vor den Fundamenten der Lagerbaracken. Oben am Waldrand die Todeskiefer, an der die SS Häftlinge erhängt hat. Ein glatter, toter Rest eines Baumes, wachsartig, gestützt von einem Metallgerüst. Ein unheimlicher Ort. Ich lese die Erzählungen der Häftlinge zu diesem Baum: Ein russischer Häftling hatte sich geweigert, den Sockel unter zwei zur Hinrichtung vorbereiteten Jungen wegzustoßen und antwortete dem SS-Mann, daß er es selber tun solle. Nachdem die beiden tot waren, wurde der Russe gefoltert und anschließend neben der Todeskiefer noch halblebendig unter Beton begraben. Ich halte es nicht mehr aus, fliehe bergab in Richtung Waldlichtung. Der Weg ist teilweise noch von alten Betonpfosten und Stacheldraht gesäumt. Als ich weiter unten auf die Lichtung einbiege, atme ich auf. Endlich wieder freie Sicht, überschaubares Gelände. Rationales Denken. "Ach, da haben sie dann doch einen Jägerstand aufgestellt, gibt ja doch viele Rehe hier...", denke ich und möchte im nächsten Moment implodieren. Ich stehe neben einem der alten Wachtürme und das furchtbare Gefühl ist wieder da.


 


Dieses KZ hinterläßt schwere Wunden in mir. Die Leere, das Grauen, die Abwesenheít von anderen Menschen, die Unorganisiertheit des Gedenkens und der Gedenkstätte, das Verwobensein mit dem Wald, der scheinbare Friede der Waldlichtung, all dies wiegt zigmal schwerer als alle anderen Gedenkstätten, die ich bisher besucht habe. Umso seltsamer ist es, in diesem Blog darüber scheinbar zu plaudern.

Hausnummernbingo: Etwas müdes Ergebnis heute...

#12: Klein Quenstedt

Guten Morgen, Sonnenschein...

Wieviel Freude doch so eine kleine Serviette machen kann...