Freitag, 14. Mai 2010

13.05.2010 - Tag 21
Walkenried – Bleicherode
6 h - 25 km


Der Tag beginnt wie eine perfekte Choreographie: Ich verlasse die Pension, von dort sind es nur 50m bis zum Waldrand. Ich finde einen Trampelpfad, der steil genau den kleinen Höhenzug erklimmt, den ich überqueren will. Eine kleine Querfeldeinetappe, aber genau so, wie ich sie mir wünsche.

Auf der anderen Seite am Waldrand, auf der alten Zonengrenze zwischen Niedersachsen und Thüringen, haut es mich um: Ich sehe mein Tagesziel am Horizont! Die Bleicheröder Berge rechts und die Hainleite weiter links sind deutlich zu erkennen. Dazwischen welliges Hügelland. Alles sieht zum Greifen nahe aus, aber der Blick auf die Karte versichert mir, daß es gut 15 km Luftlinie sind. Besser kann ein Tag nicht beginnen. Und es sollte auch einer der schöneren Wandertage werden.

Hinter Branderode sehe ich eine Gruppe Wanderer auf einen grasbewachsenen Berg ziehen und ahne, daß das nur die Vorhut der Vatertagstouristen ist. Dieses Foto schieße ich noch mit viel Sicherheitsabstand und Super-Zoom. Später kommen sie mir in Scharen entgegen, mit Bollerwagen, auch Rollstühlen, ganze Familien. Zu zweit, zu fünft, zu zwanzigst. Ich setze tapfer meine Gute-Laune-Miene auf, grüße jovial und mache Tempo. Schnell vorbei, bevor ich in ein Gespräch verwickelt werde. Ich vermeide geistesgegenwärtig den eigentlich geplanten Weg über das Naturdenkmal „Schnapseiche“, es braucht nicht viel Phantasie, um sich die Schnapsleichen unter der Schnapseiche vorzustellen.
Mittagspause im Wald, auf dicken gefällten Buchenstämmen, die die Forstarbeiter dankenswerterweise so gestapelt haben, daß ich wie in einem Liegestuhl fläzen kann. Ich lasse mehrere Gruppen Vatertagstouristen an mir vorbeideflieren und belausche sie kräftig. Die alten Herren unterhalten sich in kurzen Grunzlauten darüber, wer das Grundstück gekauft hat. Die Jungs thematisieren Panzer, Kreiselkompässe und andere technische Entwicklungen.

In den vergangenen Wochen habe ich genau einen anderen Wanderer getroffen – den wunderlichen alten Mann im Harz. Dank Vatertag sollen es heute am Ende 64 werden. Die zählen aber ALLE nicht! Ganz Thüringen scheint auf den Beinen und in Wald und Flur zu sein. Selbst die Bleicheröder Jugend hat sich 500m aus dem Ort hinausgequält und hat sich mit Einweggrill und Wodka direkt auf den Feldweg gesetzt. Und scheitert daran, den Einweggrill in Gang zu bekommen.
Ein ähnlich jämmerliches Bild gibt mein heutiges Ziel Bleicherode ab. Es nennt sich "Stadt". Aus der Ferne ein stattlicher Ort, aus der Nähe ein dahinsiechendes Wrack. Die Straßen sind noch leerer als sonst, auch die Häuser wirken verlassen. Ich bin ratlos. Es wirkt, als wäre die Stadt fluchtartig verlassen worden. Bei der Suche nach meinem Hotel zähle ich vier Spielhallen, ein schlechtes Zeichen. Bleicherode stirbt, ich zähle fast soviele leer stehende Wohnungen, Häuser und Läden wie Einwohner. Manchen Läden sieht man an, daß sie seit 20 Jahren auf neue Mieter warten. Die Hauptstraße mit ihren nett gepflasterten Gehwegen und teilweise schön sanierten Fachwerkhäusern macht im ersten Moment wieder etwas Hoffnung, aber ein zweiter Blick ist noch deprimierender. Alles Versicherungsbüros, sieben Stück auf einer Strecke von 100 Metern. Fünf Asia-Shops. Und Leerstand. Ich laufe deprimiert erstmal an meinem Hotel vorbei und besichtige den Rest der Ortes: Die 50er-Jahre-Plattenbausiedlung „Glück auf“, neben der ein gleichnamiges Seniorenzentrum entsteht. Die grüne Wiese, auf deren Bauschild die Gemeinde Bleicherode den Baubeginn für ihr neues Verwaltungsgebäude ankündigt: 2009. Die frühere Einkaufsstraße, die zum Berg hin immer noch mehr ausdünnt und am Ende wie dreifach verdünnter Apfelsaft schal versickert. Ich kreuze zwei leider sehr fette Frauen mit Eis in der Hand und fahre sofort die Antennen aus. Um die Ecke das Eiscafe, ein schöner Laden. Und rammelvoll. So gut das Eis ist, so tröstend diese lebendige Oase in diesem ansonsten jämmerlichen Ort ist: Es ist der einzige Platz in Bleicherode, an dem ich heute mehr als drei Menschen auf einmal sehe. Sie klammern sich daran, was anderes hat nicht offen. Selbst die drei Katzen, die fasziniert vor der Freiluft-Voliere mit den Vögeln sitzen, die sich irgendein Freak in den Garten gestellt hat, wirken traurig.
Bleicherode ist beleidigt von meinen überzogenen Forderungen und bombardiert mich mit weiteren Enttäuschungen: Ein schlimmes Zimmer in einem schlimmen Hotel. Das schon vor Jahren geschlossene italienische Restaurant. Die Verzweiflung, als ich den Ort zum zweiten Mal nach einer Essensalternative zum Hotel durchsuche. Das ungläubige Staunen, als ich mich am Ende doch ins Hotelrestaurant quäle und nicht glauben kann, wie leer und häßlich es dort ist. Das Stöhnen am nächsten Morgen, als ich feststelle, daß die Müllabfuhr schon um 05:50 Uhr den Müll vor der Haustür einlädt. Und der beständige Regen, der im Morgen auf Bleicherode fällt und damit nur noch mehr dazu beiträgt, daß ich diesem Ort schnell den Rücken kehren und mein Heil im Wald suchen will.

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