10.06.2010 - Tag 49
Weingarten - Friedrichshafen6 h - 27 km
Ich starte früh und versuche, der Mittagshitze aus dem Weg zu gehen. Vergebens. Schon bevor ich Ravensburg verlassen habe, habe ich schon die Nase voll. Die Luft ist furchtbar drückend und liegt wie ein nasser Teppich auf mir. Hinter dem letzten Wohngebiet frischt der Wind auf, es wird erträglich und schon bin ich im Wald. Die letzte Etappe meint es gut mit mir...
Nach dem Wald kommt das Obst. Stundenlang geht es durch Obstplantagen und durch Dörfer von Obstbauern, denen es nicht schlecht zu gehen scheint. An den Bäumen hängen schon Kirschen, Äpfel, Birnen, Zwetschgen -- alles noch im Mini- bis Daumennagelbereich. Zu Beginn der Reise habe ich mich in Mecklenburg-Vorpommern über blühende Obstbäume gefreut, jetzt und hier tragen sie schon Früchte. Die Obstplantagenwelt ist eine unwirkliche, mit gemähtem Rasen, keinem Stück Unkraut, genormtem Abstand zwischen den Reihen, Hagelschutznetzen über mehrere Hektar, einbetonierten Widerhaken. Und mit meterhohen Druckluftkanonen, um donnernd die Vögel zu vertreiben. Mir egal, alles egal, heute zählt nur das Ziel. Die Alpenkette wird immer deutlicher und läßt sich doch nicht richtig fotografieren - jeder Versuch endet in einem kläglich verschwommenen Grau.
Vom Berg über Ailringen müsste man den Bodensee eigentlich sehen können, peile ich auf der Karte. Die letzten zwei Kilometer freue ich mich über die Sichtblockade der Obstbäume, auf den letzten hundert Metern geht es ein wenig bergauf und die Dramaturgie ist perfekt. Hinter der Kapelle öffnet sich der Blick. Friedrichshafen liegt unter mir, die Alpen von ganz links bis ganz rechts und davor, silbergrau, der Bodensee. Ich sitze auf der Bank und forsche in mir nach einer Reaktion. Aber außer der Freude über die schöne Aussicht bleibt alles still.
Schon am späten Mittag bin ich im Hotel, stelle mich glücklich unter die kalte Dusche und halte einen ausgiebigen Mittagsschlaf. Bis zum Seeufer sind es noch drei Kilometer, unten im Ort waren mir die Hotels entweder zu doof oder zu teuer. Wie um das Ende hinaus zu zögern, beschäftige ich mich den Nachmittag mit Wäsche waschen, rasieren, fernsehen. Gegen Abend merke ich, daß es jetzt sein muß. Den Rucksack lasse ich im Zimmer und laufe in ziviler Kleidung in Richtung Ufer. Allein heute bin ich viermal angesprochen worden, ob ich den Jakobsweg laufe -- ein Graus, sich jedesmal dieser Unterstellung erwehren zu müssen. Wie ging der Spruch, den ich vor einigen Tagen an einem Haus gesehen habe: "Es gehört nur ein wenig Mut dazu, nicht das zu tun, was alle tun."
Der Bodensee ist aufgewühlt vom Wind, der von Süden peitscht. Ich sitze frisch geduscht im frisch gemähtem Gras am Ufer und sehe den Wellen zu, bin froh, daß ich hier ganz heimlich in zivil sitze und alles in mir wird ganz still. Um mich herum Rentner, Familien, alte Paare, jeder genießt den Wind und die Sonne. Neben mir döst ein schwules Entenpäarchen im Gras. Was für ein schönes Bild. Ich überlege lange, was diese Ankunft nach 1.195 Kilometern bedeutet und was sie ändert, aber ich finde keine Antwort. Ich bin trotzdem glücklich. Es waren herrliche Wochen, die mir ewig im Gedächtnis bleiben werden - nicht nur in den Momenten, wenn ich mal wieder auf einer Autobahn meine Route kreuzen werde.
Nach einem angemessenen Eisbecher streife ich durch die leere Fußgängerzone und die volle Uferpromenade von Friedrichshafen, bis ich merke, daß ich nur ziellos herumirre.
Ist gut jetzt.