Freitag, 23. April 2010

Landmaschinenland.

23.04.2010 - Tag 1
Boltenhagen - Grevesmühlen
6 h / 24 km

Meine Aufregung war in den letzten Tagen immer weiter gestiegen. Heute morgen ist es so schlimm, daß ich unmöglich frühstücken kann, nach einer Scheibe Knäckebrot und einem Glas Saft ist Schluß.
Mein Rucksack wartet fertig gepackt und fühlt sich noch immer trügerisch leicht an. Viel leichter als auf meinen Touren durch Norwegen, rede ich mir ein. Ähnlich trügerisch erzählt die Sonne das Blaue vom Himmel und verspricht wundervolles Wetter, um nur zehn Minuten später meinen kondensierenden Atem zu beleuchten.
Als ich meine Haustür abschließe, rast kurz ein „Ach du Scheiße“ durch meinen Kopf. Jetzt. Geht es los. Der Weg zur Bahn, im Gegenstrom der Pendler, fühlt sich bemerkenswert absurd an. Es bessert sich erst, als ich am Hauptbahnhof in den Zug nach Norden steige und untertauche in der Masse der Menschen, die auch ein fernes Ziel haben. Das herrliche Gefühl des Fremden, Orientierungslosen, die Herausforderung des Neuen erfasst mich erstmals auf dem Bahnhof in Wismar, wo ich dank Zugverspätung den Anschlußbus suche. Panisch, noch im Modus „So ist es geplant, so muß es klappen.“ Die letzten 45 min organisierte Reise.

Boltenhagen präsentiert sich dem Erholung Suchenden als klassisches Kurdorf, das mehr aus sich machen will, als eigentlich angemessen wäre. Die Mittelpromenade besteht aus dem Weg von der Hauptstraße zum Meer. Es riecht nach Pommes und Gyros. Und es gibt Postkarten. Und mausgraue Rentnerinnen mit Sahnelust in den Augen. Auf der Seebrücke dann der nächste Schwall von „Ach du Scheiße“. Der Blick nach vorne in die Ostsee zeigt ganz klar eine Sackgasse, also hilft nur: Umdrehen und die Reise beginnen.
Der Hunger drängt mich in die kleinste Bäckerei, die ich je betreten habe. Und belohnt mich ätzenderweise denselben Aufback-Teigwaren, die ich beim schlimmen Türkenbäcker bei mir zuhause an der Ecke kriege. Der Türkenbäcker, der die Wespen am Kuchen mit der Gabel zerdrückt und die Gabel dann wieder in die Schublade zurücklegt... Boltenhagen liegt dankenswerterweise nach insgesamt nur zwei Häuserreihen schnell hinter mir, ohne mir natürlich noch stolz seinen Großparkplatz samt zugehöriger Kloake vorzuenthalten.
Sofort auf dem nächsten Feld bin ich alleine und merke sofort das Vertraute des Wanderns. Diese Bewegungsabläufe kenne ich. Das Land ist leer hier, sehr leer. Breit, endlos und ohne Rahmen. Bemerkenswert hügelig, was aber nicht zur Lieblichkeit beiträgt. Die Straßen dazwischen sind reine Mittel zum Zweck, reines Verbinden von Dörfern oder einzelnen Häusern. Kein Weg, kein Pfad, alles straff gepflügt. Mit jeder Aussaat wieder dem Waldrand einen Meter abgetrotzt. Und auch die Straßen sind leer. Bei vielen fragt man sich, warum sie überhaupt jemals asphaltiert wurden.

Hier einige Aggregatszustände von "Leere":









Aber es gibt Lichtblicke: Erstaunlich schöne Häuser, die ich nicht erwartet hätte.

Später drängt sich Wald ins Bild, erschlägt mich förmlich mit einem Muttitraum von Buschwindröschen. Und Grün. Zartes, helles, fast noch gelbliches Grün, das unumkehrbar die Explosion begonnen hat. Und Laubwald. Erst nach vier Stunden Weg sehe ich das erste Stückchen Nadelwald und fühle mich sofort wohl.

Der letzte Ort vor dem Ziel für heute belohnt mich mit einem improvisierten Aussichtsturm auf einer Trafostation. Grevesmühlen liegt unter mir und droht mit seinen Gewerbegebieten. Von hier oben ist auch das Meer noch sehen, was einigermaßen unfair ist. Das Wetter versucht sich abermals zwischen Sonne und Regen zu entscheiden und bleibt doch wieder im Vagen. Die letzte Stunde am See entlang wiegt mich in romantisch-trügerischer Sicherheit, bevor mich das Panorama eines verlassenen Schwimmbades vor Plattenbauten auf die Konfrontation mit einem unglaublich häßlichen Ort einstimmt. All die Nettigkeit der Dörfer mit ihren Walmdächern, Reetdächern, Fachwerkhäusern und Backsteinbauten ist für den Moment fortgewischt von der Häßlichkeit von Grevensmühlen mit bröckelnden Betonfassaden, geschlossenen Pensionen, lieblosen Autowerkstätten, Sky-Supermärkten und dem Hotel, in dem ich absteige.

Eine gesunde Portion Mißtrauen habe ich mir schon angewöhnt, die mich davon abhält, vom Namen eines Hotels auf die Lieblichkeit zu schließen. Nach einem netten Versuch der Dame an der Rezeption, mich mit einem Zimmer im Treppenhaus abzuspeisen, drückt sie mir die nächste Gemeinheit rein. Aus Liebe zum Gast: Das Raucherzimmer. Ich beschließe, durchzuhalten und lüfte statt dessen fleißig. Dann kann ich mich wenigstens mit dem Erschlagen von Mücken und den entsprechenden Flecken auf der Tapete bedanken.
Die Dusche versöhnt mich wieder mit der Welt, das obligatorische Schnitzel im Hotelrestaurant ist eigentlich ganz gut und auch die Dame von der Rezeption hat sich ne Schürze umgebunden und ist plötzlich auch total freundlich. An allen Tischen Dänen. Nur hinter mir deutsche Rentner, von denen einer ständig den Rotz in der Nase hochzieht. Als ich ein Taschentuch für meine eigene Nase bestelle und eine ganze Box Kleenex gebracht bekomme, spiele ich kurz mit für den Rentner peinlichen Gedanken...
Der erste Abend des ersten Tages ist viel positiver, als ich befürchtet habe. Alles fühlt nur nach einem Abend nach einer langen Wanderung an. Und nichts anderes ist es auch. Die Tatsache, daß es noch 1.000 km weiter mit Kurs nach Süden geht, schießt mir heute nur zweimal durch den Kopf. Ansonsten bin ich damit beschäftigt, dem Frühling zuzuschauen.

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