Samstag, 22. Mai 2010

Kaiserwetter!

22.05.2010 - Tag 30
Fladungen - Gersfeld
6 h - 29 km

Das Beste an Hotels sind blickdichte Vorhänge. Die Spannung, wenn man die Vorhänge aufzieht und das Wetter des neuen Tages beäugt. Heute früh ist alles paletti. Der Blick auf Fladungen verspricht einen sonnige Tag. Aber ich wäre nicht der Quengelkönig, wenn ich nicht sofort die daraus folgenden Nachteile im Kopf wälzen würde. Och, wieder den ganzen Tag schwitzen. Och, wieder Sonnenbrand. Och, wieder soviel los in Wald und Flur. Och, wieder soviel zu Trinken mitschleppen. Aber im Grunde meines Herzens freue sogar ich Kaltwettertier mich über den sommerlichen Morgen.

Der Tag wird bestimmt durch folgende Gleichung:

Kaiserwetter + Pfingstwochenende = x

Klar, die Lösung ist: Touristen! Den ganzen Tag treffe ich Wanderer über Wanderer, von vorne, von hinten, von der Seite. Beim Laufen, beim Pause machen, beim dumm gucken. Einzeln und in Massen. Ich hätte es mir gestern Abend eigentlich schon denken können, als ich versucht habe, am Telefon meine Unterkünfte für die nächsten Abende zu buchen. Alles voll, selbst die popeligsten Dorfgasthöfe. Also Planung umgeschmissen, weise auf die Besteigung der Wasserkuppe verzichtet (ich kann mir ungefähr vorstellen, wie sich die Menschenmassen da heute totgetreten haben) und einen anderen Zielort ausgesucht. Heute bis Gersfeld, sieht auf der Karte weit aus. Zudem geht´s noch quer durch die Lange Rhön, also 600m Aufstieg und dahinter 500m wieder runter. Ich stelle mich geistig schon auf einen 8h-Tag ein...

Alles läuft wie geschmiert, der Ruhetag gestern hat mir sehr gut getan. Die Beine laufen wie ein Uhrwerk, selbst der steile Anstieg durch das Eisgrabental wird weggesteckt wie ein kleiner Hügel. Oben haben die Wanderer nett am Wasserfall gruppiert und machen Pause. Wie bei den Fliegen: Am liebsten Schwaden bilden an besonders attraktiven Plätzen. Ich steige die grasbewachsenen Hänge der Langen Rhön hinauf, von oben kann man zig Kilometer weit ins Land sehen. Tonnenweise Motorradfahrer brummen gemütlich durch das schöne Wetter und bummeln mit gemächlichem Tempo die Hochrhönstraße entlang, was wiederum die Rennradfahrer mit ihren libellenartig vorbeisausenden Rennmaschinen dazu ermuntert, sich auf den Abfahrten in den Windschatten der Biker zu hängen und einfach mal dranzubleiben. Man kann ihnen den Stolz schon auf hunderte Meter ansehen...


Als ich mich zur Mittagspause bette, ahne ich, daß ich genau auf dieser Wiese vor ein paar Jahren schon einmal war, bei meinem einzigen Besuch in der Rhön bisher. Auch der weitere Verlauf der Tour kommt mit sehr bekannt vor. Es ist sicherlich 5 oder 6 oder vielleicht noch mehr Jahre her, als ich hier war, aber irgendwie prägen sich Landschaften immer sehr gut in mein Hirn ein, manchmal viel besser als Namen oder Gesichter. Auch der Heidelstein, den ich anstatt der Wasserkuppe erklimme (ist ja auch nur 25m niedriger), kommt mir bekannt vor. Hier treffe ich dankenswerterweise keine Sau und kann ein herrliches Panorama genießen.

Gegen 15:00 Uhr mache ich mich auf den Abstieg nach Gersfeld und bin leicht irritiert, wie schnell dieser Tag vorbei ging. Gersfeld serviert mir nicht nur einen Einzelwanderer, mit dem ich nicht Schritt halten kann (was immer noch an mir nagt!), sondern auch sofort ein wunderschönes Eiscafé mit vorzüglichen Eissorten (u.a. Zimt mit Pflaumen). Als Bonus gibt es noch eine schattige Bank gegenüber vom Marktplatz, wo ich Einheimische und Touristen beobachten kann. Mein Glück ist perfekt.


Ansonsten ist heute der Tag der coolen Kinder. Cooles Kind 1 erheitert mich im schönen Dorf Hausen, als es auf seinem Tretroller hinter mir her kachelt und mich fragt, was ich denn da mache. Ich antworte erstmal boshaft "Fahrrad fahren", was der Zwerg natürlich heftig anzweifelt. Schonmal die erste Prüfung bestanden, mein Bester. Ich zeige mich gnädig und erkläre ihm, daß ich wandere. Das glaubt er mir nun aber auch nicht und ich bin platt. Seine Begründung: "Aber da sind ja gar keine anderen dabei!" Anscheinend geht alleine wandern nicht. Ich erkläre ihm, daß ich gaaaanz weit wandere, von der Ostsee bis zu den Alpen und das wäre so weit, daß keiner von meinen Freunden mitwandern wolle. Also bin ich alleine unterwegs. Das leuchtet ihm wiederum ein und ich bin entlassen.

Cooles Kind 2 treffe ich auf dem Gersfelder Marktplatz. Während links vor der Bäckerei alle alten Menschen sitzen, sitzen rechts vor dem Eisladen alle jungen Menschen. Das coole Kind 2 turnt seit mehreren Minuten unter einem Werbeschild zwischen den beiden Läden herum, während die Eltern - natürlich - vor dem Eiscafé sitzen. Und mit den laut herausgekrähten Worten "Was kommt denn DA hervor? Die liebe Sonne!" taucht das coole Kind in das Licht blinzelnd wieder unter dem Werbeschild hervor und steht Beifall heischend auf dem Marktplatz. Ich bin kurz versucht, zu klatschen, der Vater sieht aber nicht aus wie ein Spaßversteher. Überhaupt ignorieren die jungen Eltern den coolen Auftritt ihres coolen Kindes. Schade eigentlich.

Freitag, 21. Mai 2010

Rüber in den Westen!

20.05.2010 - Tag 28
Meiningen - Fladungen
29 km - 7 h

Och Menno... Schon beim Frühstück muß ich dem Damenkränzchen am Nebentisch zuhören und erfahre haarklein ihre Erlebnisse der Nachkriegszeit und ihre gegenseitige Meinung dazu. Wenigstens regnet es nicht mehr draußen. So hält mich nichts im Hotel und in Meiningen.

Auch das bißchen Steigung zum Frühstück nehme ich als kleinen Abschiedsgruß von Meiningen hin, doch danach wird es unheimlich. Oben auf dem Feld kommt erst ein kleines Dorf, dann links ein Gewerbegebiet und hinter dem Dorf geht das Gewerbegebiet nochmal flotte 3 Kilometer weiter. Ich habe mich ja schon oft mit Rucksack und Wanderstiefeln fehl am Platz gefühlt, aber ein Wanderer im Gewerbegebiet ist noch mehr fehl am Platz als ein Alien bei Karstadt. Nach dem Gewerbegebiet kommt noch ein Steinbruch. Danach noch ein Trupp der Kampfmittelräumung. Danach bin ich irgendwann dann doch mal im Wald. Aber der Tag bleibt obskur. Ich sehe in aller Seelenruhe einer ollen Nacktschnecke zu, die geradewegs in eine Pfütze und eigentlich in ihren sicheren Tod kriecht. Als sie nach 10 min unter Wasser immer noch fidel ist, gehe ich weiter. Obskure Wege, manchmal habe ich das Gefühl, daß hier seit Monaten niemand mehr gegangen ist.

Am Waldrand sieht plötzlich alles aus wie in Franken. Ein kleines Dorf liegt vor mir, ein paar Fachwerkhäuser, ein paar Hügel, ein paar Bäume, Wald, und eine Pferdefamilie. Ein bißchen wie die Gegend hinter Hersbruck, wo ich als Kind immer zum Wandern gewungen wurde... Passend dazu vollziehe ich ein besonderes Ritual, auf das ich mich schon lange gefreut habe: Ich stecke die letzte Wanderkarte des Landesvermessungsamtes Thüringen weg und hole die Rhön-Karte vom Fritsch-Verlag hervor. Besonders deshalb, weil es Karten dieses Verlages waren, mit denen ich vor vielen Jahren Kartenlesen gelernt habe.

Gegen Nachmittag stehe ich zum letzten Mal auf dieser Reise an der ehemaligen Zonengrenze. Ich wandere einige Kilometer den Kolonnenweg aus Betonplatten entlang -- man kann die Grenze immer noch spüren. Die Landschaft nach Osten hin ist auf mehrere Kilometer entvölkert, immer wieder stoße ich auf Erinnungen an verschwundene Dörfer und Siedlungen. Der Kolonnenweg, damals das letzte Stück Osten vor dem Westen, bildet noch immer eine Zäsur in der Landschaft. Seit mehr als 2 Kilometern biegt kein Weg in den Westen ab, eine Baumreihe begleitet den Kolonnenweg, dahinter ein Wassergraben. Dahinter ist nur Wald zu ahnen. An einem Wegknick schlage ich mich durchs Unterholz rüber in den Westen. Nach ungefähr 200 Metern stoße ich auf den Überrest eines Weges, anscheinend damals das westdeutsche Pendant zum ostdeutschen Kolonnenweg. Bei dem Versuch, mich weiter zum nächsten Weg durchzuschlagen, verirre ich mich heftig. Eine Zeitlang folge ich einem schwachen Pfad und einer Art Markierung aus Plastikbändern an Zweigen, aber am Ende stehe ich immer noch mitten im Wald, obwohl ich eigentlich schon längst auf den Weg stehen müßte. Seltsamerweise fühlt es sich immer noch irgendwie verboten an, in diesem Waldstück unterwegs zu sein. Irgendwann verläßt mich mein Mut, mich weiter querfeldein zu schlagen und ich peile mich zurück auf`s Feld, auf den Kolonnenweg, von dem ich vorhin abgebogen bin. Als ich nur 150m weiter östlich wieder darauf stoße, bemerke ich, daß ich die ganze Zeit schwer den falschen Kurs gewählt hatte.

Hinter dem ersten Dorf in Bayern streichelt mich die Rhön mit schönen Aussichten. "Land der offenen Fernen" haben es die Touristikmarketingmenschen genannt. Furchtbarer Titel, schön ist es aber trotzdem. Schließlich ist es Franken... Im Hotel buche ich spontan und geistesgegenwärtig eine zweite Nacht und bin sofort froh über diese Entscheidung für einen Ruhetag. Schlafen, rumhängen, lesen. Und aus dem Fenster gucken, was man in diesem Hotel über Fladungen ganz vorzüglich machen kann. Nachdem es eine halbe Stunde vor meiner Ankunft aus Gewohnheit wieder zu regnen begann, schaue ich nun - frischgeduscht und im Bademantel - den Wolken zu. Herrlich, soviel Zeit zu haben.

Hausnummernbingo: Ich mache mir Sorgen...

Seit Tagen: keine Treffer. Vorgestern nix. Gestern nix. Heute nix. Vielleicht verlasse ich langsam das Vertriebsgebiet der von mir so hochgeschätzten Hausnummern...

Gott sei Dank erreichen mich auch aus anderen Quellen Einsendungen zum Thema:

#13a: Brieselang

Donnerstag, 20. Mai 2010

Was naß beginnt, endet naß...

19.05.2010 - Tag 27
Schmalkalden - Meiningen
6,5 h - 26 km

Eigentlich bin ich selber schuld. Morgens beim Telefonat mit der Heimat hatte ich noch großspurig behauptet, daß es hier nur in der letzten Nacht geregnet hätte. Der Schritt von der Hoteltür raus auf die Straße war wie ein Schritt in die Duschkabine...

Den ganzen Tag durch kalte Wolken, gut eingespielten Regen, unangenehmen Wind. Nach den ersten 90 Minuten bergauf bin ich komplett durchweicht, die Nässe von innen trifft die Nässe von außen und spätestens dann ist GoreTex sowieso für die Tonne. Ich rette mich überflüssigerweise in die erstbeste Schutzhütte und futtere schon vor Mittag Schokoriegel, um die Laune aufzuhellen. Die Wände sind natürlich voll mit schmutzigen Fortpflanzungsphantasien nicht ausgelasteter Jugendlicher (wer will es der Jugend von Schmalkalden auch verdenken...), ich kann mich nur schwer beherrschen, die hier schriftlich angepriesenen Frivolitäten mit den Worten "Nein danke, mir wäre es lieber, wenn der Regen endlich aufhören würde." zu kontern. Stift habe ich ja dabei. Aber ich befürchte, daß das nicht ankommt und lasse der Jugend die Freude und die Illusion. Ausharren ist nutzlos, das Wetter wird davon nicht besser.

Eigentlich ist es eine tolle Wanderung, vorbei an allen Dörfern, den ganzen Tag nur Wald und Feld. Stille Wege abseits der Forstautobahnen, vorbildlich ausgeschildert, garniert mit Geschichte und Kühen. Und kein Mensch unterwegs -- ich sehe heute nur einmal einen anderen Menschen (ein Bauer im Dorf...). Ich kann es aber nicht genießen. Daß die Füße naß sind, ist klar. Die Beine sind bis zu den Knien hoch voller Matsch. Meine Klamotten sind naß, die Hose fühlt sich an wie eine feuchte Windel. Ich höre mindestens schon eine Blasenentzündung trapsen. Mindestens! Der Regen hört nicht auf, nienienie, wenn er mal etwas nachläßt, dann nur, um das gesparte Wasser gleich darauf mit Vollgas nachzuliefern. Auch das Wasserbauen macht im Regen nur halb soviel Spaß.

Hinter Metzels verirre ich mich auf dem Feld. Auf dem Feld! Ich bin zu stolz/faul, den Rucksack abzusetzen, um den Kompaß auszupacken. Unsicher, welches nun der richtige Berg ist, auf den ich rauf will, matsche ich mich durch Kuhweiden und Wallhecken, krauche steile Abhänge hinauf mit dem Ergebnis, daß ich mich auf dem nassen Matsch erstmal vorwärts längs lege. Ich hatte schon mehr Spaß... Gott sei Dank kann man sich problemlos im nassen Gras die Hände waschen.

Kurz vor Meiningen belohnt mich der Tag mit einer herrlichen Aussicht in die Rhön (siehe links). Der Thüringer Wald liegt hinter mir, vor mir: Meiningen. Von hier oben häßlich wie die Nacht. Tolle Altstadt, tolle Parks, tolles Schloß, wie ich am Abend noch bemerke, aber die Kombination aus den Extremen Plattenbau und Laubenkolonien schmecken mir nicht. Und ich sehe die häßlichste Reihe von Neubauten, die ich auf dieser Reise bisher ansehen durfte...

Aber Meiningen hält noch andere Freuden für mich parat: Das flott über HRS gebuchte Hotel entpuppt sich als das zweite Hotel auf dieser Tour, das von klugen Architekten über ein Einkaufszentrum gesetzt wurde. Im selben Gebäude ist auch gleich noch die örtliche ARGE untergebracht, im Durchgang stehen auch gleich ein paar Arbeitslose ("Kunden" für Fratschi) und stellen sich vor dem Regen unter, was ich allerdings aufgrund fehlender Rechteeinräumungen erst am nächsten Morgen fotografiere. Ich muß sofort wieder an den schlimmen Laden in Kalbe denken, während ich an der Rezeption stehe, auf meinen Zimmerschlüssel warte und zusehe, wie um mich herum ziemlich schnell eine große Pfütze auf dem Fußboden entsteht. Kurz überlege ich ernsthaft, ob ich mir nicht was Anderes suchen will, aber die Aussicht auf eine sofortige heiße Dusche ist eine starke Droge. Das Zimmer hält auch, was meine schlimmen Gedanken mir schon vorauseilend versprochen haben. Zu allem Überfluß fiept der Fernseher. Also gehe ich heute Abend aus, Italiener und Kino.

Dachte ich beim Einchecken im Hotel noch, daß die Frau an der Rezeption eine zum Arbeiten nach Thüringen importiere Fränkin ist, werde ich abends durch weiteren Kontakt mit der lokalen Bevölkerung (vor allem im Kino, WÄHREND des Filmes) eines Besseren belehrt. Hier spricht man tatsächlich eine Art Fränkisch statt des dumpfen thüringer Singsangs der letzten Tage. Ich bin platt und fühle mich der anderen Heimat ein Stück näher...

 

Wasser gibt`s heute gratis im Gasthaus "Thüringer Wald"...

 


 

 

Dienstag, 18. Mai 2010

18.05.2010 - Tag 26
Winterstein - Schmalkalden
7 h - 27 km

Wie schön, daß Hotelgäste meistens brav beim Frühstück am selben Tisch sitzen, an dem sie am Abend schon zum Abendessen gesessen haben. So habe ich heute morgen nochmal das Vergnügen, die illustre Reisegruppe am Nebentisch zu belauschen. Wieder eine Kombination aus Berlinern und Franken. Das ist schon das zweite Mal auf dieser Reise, daß ich diese Dialekte an einem Tisch höre...

Winterstein tut nur auf dem Papier so, als wäre es ein touristischer Ort. Die Stadtväter haben zwar dafür gesorgt, daß alle Wanderwege einen vollkommen unsinnigen Umweg durch den - hüstel - Kurpark nehmen. Und sie haben bei der Planung des Ortes die Gehwege vergessen. So balanciere ich die ersten zwei Kilometer zwischen Gartenzäunen, Hauptstraße, Bach und Straßenrand. Im Wald geht`s schwer bergauf, schon der Blick auf die Karte entlockt meinen Knien ein Seufzen. Aus dem breiten Forstweg wird ein Traktorweg wird ein Karrenweg wird ein Schlachtfeld. Quellen drücken links und rechts ihr Wasser in das tief eingeschnittene Tal, an dessen Hang sich der Weg drückt. An einem besonders matschigen Stück kriege ich einen Ordnungskoller, werfe des Rucksack ab und versuche mich eine gute halbe Stunde als Wasserbaumeister. Herrlich. Ordnend eingreifen. Dämme bauen. Nebenbei den weiteren Aufstieg verdrängen. Als ich eine halbe Stunde später oben ankomme, beginnt der Horror. Gute 90 Minuten habe ich mich einsam bergauf gequält und nun stehe ich auf einer stark befahrenen Straße und werden von LKW in den Graben gedrängt. Mir fällt der schlimme alte Familienspruch wieder ein: "Hier hätte ich auch mit dem Auto hinfahren können..."

Beim letzten Anstieg auf den Großen Inselsberg kommt mir ein Ausflugsbus voller Senioren entgegen, die den Wanderer vor ihrem Fenster so entgeistert anschauen, daß ich mir das Lachen nicht verkneifen kann. Oben auf dem Berg dann Pommesterror. Drei Gasthöfe buhlen um die Ehepaare, die hier mit dem Auto hochgefahren sind oder mit Nordic-Walking-Stöcken den sanften Südwesthang hochgedackelt sind. Ich bin enttäuscht, die Aussicht rechtfertigt den Anstieg bei Weitem nicht. Egal. Beim Abstieg treffe ich die - Achtung, Hochgebirge! - Bergwachtbereitschaft mit der Klorolle in der Hand auf dem Weg in den Wald.

Ich stelle fest, daß ich heute außergewöhnlich fotofaul bin, vielleicht auch, weil man die schönen Aussichten auf das hügelige Land und die vielen Hügel dahinter nicht wirklich schön auf ein Foto bannen kann. Ich sehe Wiesen, ich sehe Mischwald, ich sehe Schafe, ich sehe Kühe, ich sehe Dörfer, ich sehe Natur. So soll es sein.

Schmalkalden ist so groß, daß es mich überfordert. Ich war (mit Ausnahme von Blankenburg, wo ich mich aber auskenne) seit Wochen nicht mehr in einem so großen Ort (20.000 Einwohner?). Das Hotel finde ich dank GPS und Google Maps ratzfatz, danach führen mich GPS und Google Maps aus Boshaftigkeit total in die Irre, als ich einmal quer durch den Ort zur DHL-Packstation will, um mein dort deponiertes Paket abzugreifen. Berg hoch, links, quer, Berg runter, murks, murks, murks. Auf dem Rückweg gehe ich einfach nach Bauchgefühl die Hauptstraße entlang, komme ohne Umwege an und bin doch erstaunt, wie sehr sich dieser Ort zieht.

Morgen geht es nach Meiningen (nochmal so eine Metropole), danach bin ich wieder auf den Dörfern. Wo ich hingehöre.

Hausnummernbingo: Schleppend...

#6: Winterstein
17.05.2010 – Tag 25
Hütscheroda – Winterstein
7,5 h – 30 km

Ach ja, das kommt davon... Wenn man morgens aus die Karte guckt, die Strecke für heute für viieeel zu kurz hält. Sind doch nur 5 h. Ach, da machen wir doch noch nen Abstecher nach Behringen zum Einkaufen. Ach, da muß ich dann doch noch auf den Großen Hörselberg und Aussicht gucken. Ach, irgendwie war das auch alles schön, aber als so gegen 16:00 Uhr klar war, daß ich noch 2h Weg vor mir habe, mußte ich doch mal kurz fluchen...

Das Wetter ist herrlich, zum ersten Mal seit einer gefühlten Woche sieht man die Sonne am Himmel. Die Laune ist bestens, ich freue mich auf den Thüringer Wald. Endlich wieder Nadelwald, Schluß mit diesem ganzen Buchenkram der letzten Tage. Der Hainich liegt hinter mir, ich wandere durch hügelige Felder immer schön quer zu den Höhenzügen. Es geht also den ganzen Tag kräftig bergauf und bergab. Als ich mich weit nach Mittag auf den Großen Hörselberg kämpfe, habe ich schon 3 meiner 4 Liter Getränkevorrat vernichtet. Die Aussicht von oben ist herrlich, dank „Montag Ruhetag“ hat die Gaststätte Hörselberghaus geschlossen und hier oben ist keine Sau. Herrlich.

Auf der Infotafel da drüben ist ein direkter Abstiegsweg ins Tal nach Kälberfeld eingezeichnet. Diesen Weg kennt meine Karte zwar nicht, aber mit solchen Ungereimtheiten kann man ja arbeiten. Steil wie in den Alpen geht es bergab und irgendwann stehe ich vor einem riesigen Steinhaufen. Ich brauche einen Moment, bis ich das Puzzle zusammengesetzt habe: Vor 2 h habe ich doch bei der großen Talbrücke die Autobahn A4 unterquert, die auf der Karte noch als „In Planung“ eingezeichnet war. Die eigentliche A4 müßte laut Karte direkt vor mir liegen. Vor mir liegt aber eine 25m breite Schneise im Wald, die aussieht wie eine frisch umgepflügte Pipeline-Terrasse. Ich stehe auf der alten Trassenführung der Autobahn! Inzwischen läuft der Verkehr ca. 6 km weiter nördlich, hier erkennt man noch die Parkplatzanlage und der Baum in der Mitte muß früher mal auf dem Mittelstreifen gestanden haben. Die alte Autobahn wurde abgerissen, auch die Brücke, unter der mein Weg nach Kälberfeld führen sollte. Was bleibt, ist eine rotbraune Schneise aus aufgewühlter Erde und Steinen im Wald. Später auf der anderen Talseite drehe ich mich nochmal um und erkenne die alte Trasse noch weitere Kilometer quer am Hang entlang. Im Osten hört man noch die Baumaschinen rumoren, ein Bagger reißt krachend Stück für Stück eine Brücke ein. Vielleicht wäre ich zwei Wochen früher noch auf einer intakten Autobahn gestanden...

 


 

Später in Winterstein lasse ich mich in das wunderbare Netz der touristischen Gastronomie fallen. Nettes Hotel, nettes Zimmer, nettes Essen. Morgen erwarten mich zum Frühstück erstmal 500 m Aufstieg. Und nachdem ich heute schon so viel gelernt habe zum Thema „Ach, die Strecke sieht aber kurz aus...“, bin ich mir sicher, daß ich morgen im Thüringer Wald meinen Spaß haben werde.

P.S.: Ich hab inzwischen noch mehr gelernt: Rennstieg ist nicht gleich Rennsteig. Rennsteig ist Thüringer Wald, Rennstieg ist Hainich. Kluges Tourismusmarketing, liebe Thüringer...

Mein Lieblingsmoment: Kurz vor der Kuppe!

In meiner gesamten Wanderkarriere gab es schon immer einen Moment, den ich am allerliebsten habe: Der Moment, kurz bevor man nach langem Aufstieg endlich einen Bergsattel, eine Hügelkuppe oder eine großartige Aussicht erreicht. Also der Moment, an dem man das manchmal stundenlange Bergauf-Keuchen abhakt und plötzlich etwas Neues kommt. Ein neues Tal, eine neue Perspektive, Aussicht. Man wird für den Aufstieg belohnt und dieser Moment kurz davor – ist einfach herrlich. Bald ist es geschafft, danach wird alles anders.

Heute gab´s das in Reinstform: Aufstieg auf die Hörselberge über Felder und Wälder, zwischendurch auch mal kurz verirrt, und dann die letzten Schritte bis auf den Kamm. Das Land liegt von West nach Ost ausgebreitet vor meinen Füßen. Ich sehe weit in den Thüringer Wald hinein, im Westen erkennt man die Eisenach und die Wartburg, im Süden den Großen Inselsberg (schon als Vorgeschmack für morgen – ein Aufstieg auf gut 900 m), im Osten ist auch irgendwas Schönes.
 


Rollenverteilung: genehmigt!

Schöne Entdeckung auf einem Werbeschild heute: Hier in Thüringen ist die Welt noch in Ordnung. Die Eheleute gehen wandern, Vati vorneweg, Mutti hintendran. Vati hat den Spazierstock dabei, um Mutti notfalls zu verdreschen (falls sie den Bauernburschen hinterher späht) und trägt selbstverständlich den Rucksack. Mutti trägt derweil keusch Kopftuch.

Wege zwischen Hainich und Thüringer Wald...

 



Hausnummernbingo: Eine besondere Überraschung!

#11: Hastrungsfeld

Und als besonderes Schmankerl: Eine Einsendung eines iPhone-Nutzers aus Berlin! Also:
#13: Berlin

Sonntag, 16. Mai 2010

Der Hainich: matschig und sanft...

16.05.2010 - Tag 24
Heyerode - Hütscheroda
26 km - 6 h

Auch beim Frühstück versteht mein Hotel zu enttäuschen. Aus Boshaftigkeit probiere ich von jeder Sorte Wurst auf der Wurstplatte etwas, lasse dann alles angebissen liegen und esse statt dessen Honig.

Den ganzen Tag durch den Hainich, seit Langem scheint wieder die Sonne. Ich lasse die Regenjacke weg und schwanke sogar, ob ich mannhaft die Sonnenbrille auspacken soll. Viele Wanderer unterwegs, schon an der ersten großen Kreuzung habe ich die erste Familie im Nacken.

Ich wühle mich durch Buchenwald und Schlamm, kein Dorf, kein Haus, nur eine Landstraße ist heute mal kurz zu sehen. Es geht sich leicht in der Sonne und auf den Forstwegen, umso mehr fluche ich auf den matschigen Fußwegen. Trotzdem ist der Tag wie Balsam. Und es kommt noch besser: zur Mittagszeit. Seit Wochen ruft mich meine innere Uhr gegen 14:00 zur Mittagspause. Rucksack abwerfen, hinsetzen, trinken, Schweiß aus dem Gesicht wischen, Schokoriegel essen. Als ich heute zur gefühlten Pausenzeit den Waldrand erreiche, empfiehlt mir der 7. Sinn des Wanderers, doch mal den Parkplatz 100m weiter auszuchecken. Und ein Traum wird wahr: Eine Tafel. "Baude, Biergarten, Kuchen". Beglückt wanke ich zur Holzhütte rüber und nähere mich dem Paradies. Alles stimmt: Der Wirt fährt nen Chevy S10 Pickup, zwei sehr gut gelaunte und witzige Damen bitten mich in die Baude und pfeifen ausdrücklich auf meine matschverkrusteten Stiefel -- dies sei ja schließlich eine Hütte! Drinnen nur zwei Tische, ich schrecke zurück, denn es läuft volksmusikalischer Schlager. Die Damen bestehen darauf, daß ich mich drinnen setze, immerhin heizt der Holzofen so schön gemütlich. Mir ist alles recht und ich esse glücklich alles, was die Damen auftischen. Es gibt Linsensuppe, Aussicht, Spezi, Aussicht, Tischgespräche, Waldbeerkuchen, Aussicht, Spezi. Ich belächele die Wochenendwanderer, die kommen und gehen und am Ende bin ich glücklich eine volle Stunde auf der Bank neben dem Ofen gesessen. Einen schöneren Gefallen hätte mir Thüringen heute nicht tun können.